EthikJournal 1. Jg. (2013) Ausgabe 2
"Kindeswohl"
Editorial
Axel Bohmeyer
Das Kind, der Jugendliche und sein Wohl
Ein staatlicher Eingriff in das Erziehungsrecht der Sorgeberechtigten ist rechtfertigungsbedürftig. Denn mit Blick auf das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, das die zentralen staatlichen System- und Werteentscheidungen kodifiziert, sind die „Pflege und Erziehung der Kinder […] das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“. So jedenfalls wurde es vom Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949 beschlossen und in Artikel 6, Absatz 2 festgeschrieben. Zugleich ist eine staatliche Intervention in das natürliche Recht der Eltern offensichtlich auch rechtfertigungsfähig, denn der Staat hat zu prüfen, ob das natürliche Recht der Eltern bzw. die damit verbundenen Pflichten von ihnen auch tatsächlich wahrgenommen werden.
Fachartikel
Micha Brumlik
Kindeswohl und advokatorische Ethik
Zusammenfassung Thema einer advokatorischen Ethik sind die Rechte und vor allem Pflichten, die mündige Menschen gegenüber mit unaufgebbarer Würde begabten Menschen haben, die entweder noch nicht oder nicht mehr mündig, d.h. noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, die Gestaltung ihres eigenen Lebens autonom wahrzunehmen. Der Beitrag erörtert die Begründbarkeit einer derartigen Ethik unter Berücksichtigung der erziehungsphilosophischen Tradition. Einem Grundgedanken Immanuel Kants, dass nämlich das Zeugen und Gebären eines Menschen einem von ihm nicht gewollten Verpflanzen in eine zunächst feindliche Umwelt gleichkommt, ist die hier versuchsweise begründete Ethik ebenso verpflichtet, wie der systematischen Einsicht, dass die entscheidenden ethischen Fragen sich eben nicht zwischen mündigen Menschen, sondern zwischen Mündigen und Unmündigen stellen.
Schlüsselwörter Diskursethik – Doppelmandat – Erziehungsphilosophie
Johannes Giesinger
Kindeswohl und Respekt
Zusammenfassung In diesem Beitrag wird diskutiert, welche Bedeutung der Kindeswohl-Begriff im Rahmen einer normativen Konzeption von Kindheit haben kann. Die These lautet, dass der Begriff zwar unverzichtbar ist, jedoch anderen normativen Konzepten – und insbesondere dem Begriff des Respekts – untergeordnet werden sollte: Erstens sollten Kinder nicht nur als Träger von Interessen, sondern als moralische Gegenüber gesehen werden, die normative Ansprüche stellen können. Zweitens sollte Kindern ein begrenzter Anspruch auf Autonomie zugestanden werden, der unabhängig von Erwägungen zu ihrem Wohlergehen ist. Drittens müssen sich paternalistische oder pädagogische Eingriffe in das kindliche Handeln an der Frage orientieren, ob das Kind ihnen vernünftigerweise zustimmen könnte.
Schlüsselwörter Kindeswohl – Respekt – Interessen – Kinderrechte – Autonomie
Lothar Krappmann
Das Kindeswohl im Spiegel der UN-Kinderrechtskonvention
Zusammenfassung Das von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 20. November 1989 verabschiedete und mittlerweile von 193 Staaten ratifizierte Übereinkommen über die Rechte des Kindes ist weiterhin Gegenstand rechtlicher und moralischer Auseinandersetzungen. Dabei steht insbesondere die richtige Auslegung des im Artikel 3, Abs. 1 festgeschriebenen Begriffs des Kindeswohls im Mittelpunkt der Kontroversen. Diese Kontroversen werden nachgezeichnet und die verschiedenen Argumente werden abgewogen. Es wird herausgearbeitet, dass der primäre Vorrang, der dem Kindeswohl gebührt, erst durch die Kinderrechtskonvention festgeschrieben wird. Dabei wird auch die Diskussion nach der rechtlichen Unbestimmtheit des Kindeswohlbegriffs aufgegriffen und dem Vorwurf begegnet, der Artikel 3 sei allzu vage formuliert. Zudem wird die Lesart einer kindbasierten Bestimmung des Kindeswohls unterstützt und der enge Zusammenhang zwischen Kindeswohl und Gehör für die Interessen des Kindes dargelegt. Außerdem wird erörtert, wie eine Abwägung des Kindeswohls gesichert werden kann.
Schlüsselwörter best interests – elterliche Sorge – Interessen des Kindes – Kinderrechtskonvention – Kinderrechtsumsetzung – Kinderrechtsverletzung – Kindeswohl – Kindeswohlabwägung – Unbestimmtheit des Kindeswohls – Menschenrechte – UN-Kinderrechtsausschuss
Andreas Lienkamp
Kindeswohl und Soziale Arbeit
Zusammenfassung Kinder und Jugendliche sind eine vulnerable Bevölkerungsgruppe, deren Würde und Wohl besonders geschützt werden muss. Dennoch kommt es immer wieder zu erheblichen Kindeswohlgefährdungen bis hin zu physischer und psychischer Gewalt, die im Vorfeld hätten verhindert werden können und müssen. Wenn es um Kindeswohl versus Autonomie der Erziehungsberechtigten geht, kann es jedoch ein echtes Dilemma der hier ohnehin nur scheinbar konkurrierenden Grundrechte nicht geben. Sozialprofessionelle müssen in der Lage sein, als Anwältinnen und Anwälte für soziale Gerechtigkeit verantwortungsvoll, rechtzeitig und machtvoll zu handeln. Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession sollte stärker als bisher ihr Drittes Mandat für die Menschenrechte von Kindern wahrnehmen – auf allen Ebenen.
Schlüsselwörter Kindeswohl – Kindeswohlgefährdung – Menschenrechte – Misshandlung – Soziale Arbeit – Vernachlässigung
Anna Maria Riedl
Der Begriff des Kindeswohls in theologisch-ethischer Perspektive. Von einer Kindertheologie zu einer Theologie der Kindheit
Zusammenfassung Der Beitrag untersucht die theologische Auseinandersetzung mit den Themen Kind und Kindheit. Dabei werden neben einer starken Schutztradition vor allem Defizite in der Anerkennung der kindlichen Subjekthaftigkeit und der Beteiligungsrechte des Kindes deutlich. Zur Überwindung dieser Defizite werden Potentiale der eigenen Tradition ermittelt und auf ihren Beitrag für eine Theologie der Kindheit hin untersucht. Die Grundfrage lautet, ob sich aus dieser theologisch-ethischen Reflexion ein Verständnis von Kindeswohl entwickeln lässt, dass auf einem Kern nicht relativierbarer Normen zum Schutz der kindlichen Würde oder Subjekthaftigkeit beruht.
Schlüsselwörter Kindheit – Kindeswohl – Schutz – Beteiligung – Theologie der Kindheit – theologische Ethik
Fallkommentar
Siegrid Graumann
Elternschaft und Selbstbestimmung
Frau E. (23) und Herr T. (22) (beide mit einer geistigen Beeinträchtigung) sind seit mehreren Jahren ein Paar. Vor fünf Jahren haben sie eine Tochter, Anna, geboren. Bei der Geburt wurde die Mutter von Herrn T. als Vormund für Anna bestellt. Herr T. lebt trotz der Beziehung zu Frau E. gemeinsam mit Anna und seiner Schwester (11) nach wie vor bei seiner Mutter (48), die auch seine gesetzliche Betreuerin ist. Frau E. wohnt in einer Einzimmerwohnung eines Trägers, der sie seit mehreren Jahren mit einem ambulanten Betreuungsangebot bei der Bewältigung ihres Alltags begleitet und unterstützt. Zwar möchten Frau E. und Herr T. gerne gemeinsam mit Anna zusammen wohnen, der Träger bietet jedoch keine entsprechende Hilfeform für Familien an und ohne Begleitung können sie den Familienalltag nicht stemmen.(...)
Buchrezension
Christian Spieß
Ingo Bode: Die Infrastruktur des postindustriellen Wohlfahrtsstaats. Organisation, Wandel, gesellschaftliche Hintergründe
So viel einerseits vom Wandel des Wohlfahrtsstaats die Rede ist, so wenig wird andererseits dieser Wandel in seinen verschiedenen Facetten umfassend und präzise beschrieben. Das liegt gewiss auch daran, dass der Terminus ‚Wohlfahrtsstaat‘ an sich mit unterschiedlichen Bedeutungsdimensionen in Verbindung gebracht wird und in verschiedenen Diskursen thematisiert wird, nämlich in politisch-philosophischen, sozialpolitischen, soziologischen und nicht zuletzt in den Diskursen der angewandten Politik. Normative Vorannahmen und ideologische Voreingenommenheiten fließen ebenso in die Auseinandersetzung mit dem Wohlfahrtsstaat ein wie jeweils fachwissenschaftlich geprägte Perspektiven. Solche Standpunkte und Perspektiven können nicht ausgeblendet werden, aber es gehört zu den großen Vorzügen des hier besprochenen Bandes von Ingo Bode, Professor für Sozialpolitik mit Schwerpunkt organisationale und gesellschaftliche Grundlagen am Institut für Sozialwesen des humanwissenschaftlichen Fachbereichs der Universität Kassel, die entsprechenden Schwierigkeiten offenzulegen und zu benennen. (...)