EthikJournal 3. Jg. (2015) Ausgabe 2
"Soziale Arbeit in Kontexten von Zwang"
Editorial
Andreas Lob-Hüdepohl
Professionelle Soziale Arbeit sieht sich in der Regel mit einer widersprüchlichen Ausgangssituation konfrontiert: Einerseits will sie die AdressatInnen ihrer Unterstützung zu einem Mehr an selbstgestalteter und darin menschenwürdiger Lebensführung verhelfen. Dies gebietet nicht nur ihr Selbstanspruch, die menschenrechtlichen Ansprüche ihrer AdressatInnen zu respektieren, zu schützen und zur Geltung zu bringen. Darin eingeschlossen sind natürlich vor allem auch die klassischen Freiheitsrechte eines Menschen, die in einer autonomen, also selbstverantwortlichen und selbstgestalteten Lebensführung gipfeln. Dies gebieten auch die einschlägigen gesetzlichen Grundnormen, wenn etwa das Erste Sozialgesetzbuch soziale Hilfen darauf verpflichtet, „gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere für junge Menschen, zu schaffen” (§ 1 Abs. 1 SGB I). Eine freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt aber voraus, dass die Unterstützung selbst als Akt der (sozialberuflich assistierten) Freiheit erfolgt, will sie ihr zentrales Ziel nicht konterkarieren. Insofern ist die freiwillige Mitwirkung der Hilfeempfänger eigentlich ein zwingendes Erfordernis.
Und genau hier wird die Widersprüchlichkeit der Ausgangssituation Sozialer Arbeit offenkundig: Denn andererseits ist schon die Lebenslage, in der die HilfeempfängerInnen einer sozialprofessionellen Unterstützung bedürfen, alles andere als ein Ausdruck freiwillig gewählter Lebensumstände, die unproblematisch eine freiwillige Entscheidung für oder gegen die Annahme eines Unterstützungsangebotes ermöglichen würden.
Fachartikel
Carmen Kaminsky
Soziale Arbeit zwischen Mission und Nötigung: ethische Probleme sozialberuflichen Handelns in Zwangskontexten
Zusammenfassung Zwangskontexte sozialberuflichen Handelns stellen kritisch in Frage, welches Verhältnis die Profession Soziale Arbeit einerseits zu ihrer Klientel und andererseits zu staatlichen Institutionen einnimmt. Darf und muss sich die Profession Soziale Arbeit an staatlich legitimierten Zwangsmaßnahmen beteiligen, wenn sie ihre höchsten Werte nicht gefährden will? Darf sie unter Umständen sogar selbst Zwangsmittel ergreifen? – Mit einer professionsethischen Argumentation begründet die Autorin, dass die Soziale Arbeit prima facie zur Ablehnung von Zwangsmaßnahmen verpflichtet ist. Darüber hinaus legt die Soziale Arbeit Wert darauf, dass sich ihre Klientel freiwillig auf ein Arbeitsbündnis einlässt. Die weiterführende Auseinandersetzung mit Bedingungen unter denen sozialberufliche Hilfen angenommen oder abgelehnt werden, wirft allerdings kritische Fragen auf: unterstellt die Soziale Arbeit ihrer Klientel möglicherweise zu Unrecht motivationale Bedrängnisse und verlangt sie ggf. ein zu hohes Maß an Freiwilligkeit? In eng umgrenzten Fällen – so die Argumentation – könnte die Ausübung von Zwang ethisch gerechtfertigt sein und die Profession entsprechend von der prima facie-Regel abweichen dürfen.
Schlüsselwörter Professionsethik – Ethik Sozialer Arbeit – Zwang – Zwangskontext – Freiwilligkeit
Julia Zinsmeister
(Wann) Ist Zwang in der Pädagogik erforderlich und gerechtfertigt?
Plädoyer für einen menschenrechtsbasierten Ansatz in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag fragt nach den Voraussetzungen der Rechtfertigung von Zwangsmaßnahmen in der pädagogischen Arbeit. Dazu wird zunächst eine Differenzierung zwischen Zwang in einem weiten Sinne und Formen unmittelbaren Zwangs einerseits und Freiheitsbeschränkungen gegenüber Freiheitsentziehenden Maßnahmen als An-wendungsformen von Zwang andererseits vorgenommen. Unter Bezug auf verschiedene Anwendungskontexte erläutert die Autorin vier Grundsätze der Verhältnismäßigkeit von Zwangsmaßnahmen.
Schlüsselwörter Zwangsmaßnahmen – geschlossene Unterbringung – Fixierung von Menschen mit Behinderungen – legitimer Zweck – Verhältnismäßigkeit – Erforderlichkeit – UN-Kinderrechtskonvention – UN-Behindertenrechtskonvention
Theresia Wintergerst
Verachtungsdynamiken in geschlossenen stationären Hilfeinstitutionen
Zusammenfassung Der Artikel befasst sich mit Achtung als grundlegende Haltung der Sozialen Arbeit. Er tut dies vor dem Hintergrund von deren Abwesenheit, nämlich der Verächtlichkeit in geschlossenen stationären Hilfeeinrichtungen. Es wird eine Philosophie der Achtung als Haltung skizziert, die auch Gefühle und Gefühlsdispositionen impliziert. Es werden institutionelle Rahmenbedingungen reflektiert, die die Entstehung von Verächtlichkeit begünstigen und Überlegungen aufgewiesen, wie Achtung im sozialprofessionellen Handeln gelernt werden kann.
Schlüsselwörter Haasenburg – Verachtungsdynamiken – totale Institution – Achtung als Haltung – stationäre Hilfeformen
Andreas Lob-Hüdepohl
Soziale Arbeit im Gefängnis – ein Widerspruch?
Professionsethische Überlegungen
Zusammenfassung In dem Beitrag charakterisiert der Autor das Gefängnis bzw. die Straffälligenhilfe zunächst als Institution in der Ambivalenz zwischen zwangsbewehrender und freiheitseröffnender Funktion. Dem Selbstverständnis moderner Straffälligenhilfe entsprechend identifiziert er in der professionellen Begleitung, Behandlung und Betreuung von Häftlingen im Strafvollzug die zentralen und genuinen Tätigkeitsmerkmale Sozialer Professionen. Der Autor argumentiert daher dafür, Akteure des Strafvollzugs grundsätzlich den Sozialen Professionen zuzuordnen, die damit auch deren professionsmoralischen Verbindlichkeiten unterliegen. Abschließend entfaltet der Autor vier professionsmoralische Grundhaltungen für die Arbeit in der Straffälligenhilfe.
Schlüsselwörter Straffälligenhilfe – Professionsmoral – Achtung – Sozialprofessionelle Grundhaltungen
Fallkommentar
Michael Leupold
Ethische Aspekte sozialprofessionellen Handelns mit suizidgefährdeten Menschen
Andrea Müller, 40 Jahre alt und an einer schizoaffektiven Psychose erkrankt, lebt seit über zehn Jahren in einer ambulant betreuten Wohngemeinschaft, die von dem Sozialarbeiter Dieter Meier betreut wird. Zusätzlich geht Andrea Müller regelmäßig zu ihrem ambulanten Psychiater, Dr. Arnold Kastner, und besucht seit dem Umzug in die Wohngemeinschaft von Montag bis Freitag eine Tagesstätte für Menschen mit einer psychischen Behinderung. Andrea Müller war in ihrer Jugendzeit mehrmals in der Psychiatrie und befand sich dort auch zeitweise gegen ihren Willen per Gerichtsbeschluss. Zudem hat sie Dieter Meier erzählt, dass sie bereits mehrere Suizidversuche unternommen hat. Der Bruder von Andrea Müller hat sich vor 15 Jahren das Leben genommen. Seit Andrea Müller in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft lebt, hatte sie keine psychischen Krisen und benötigte daher auch keine stationäre psychiatrische Behandlung mehr. In den regelmäßigen Gesprächen mit Dieter Meier wurden u. a. immer wieder die Sorgen und Bedenken von Andrea Müller aufgegriffen, ob sie bei einer erneuten suizidalen Krise „sofort” weggebracht und gegen ihren Willen behandelt würde.
Fallkommentar