EthikJournal 4. Jg. (2017) Ausgabe 2


"Suizidales Begehren im Altern und in Krankheit"

Editorial


 

Andreas Lob-Hüdepohl

Die gesellschaftliche Diskussion darüber, was menschenwürdiges Sterben bedeutet, war in den vergangenen Jahren maßgeblich durch die in Fachkreisen, auf parlamentarischer Ebene und in der breiten Öffentlichkeit geführten Debatte um eine gesetzliche Neuregelung der (ärztlichen) Beihilfe zum Suizid geprägt. Mit dem Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung, das die Beihilfe zum Suizid als Dienstleistung durch Einzelpersonen oder Vereine unter Strafe stellt, ist die ordnungspolitische Diskussion zu einem Ergebnis gekommen. Mit der rechtlichen Normierung dieser bestimmten Form der Beihilfe zum Suizid sind jedoch weder die normativen Fragen der Bewertung suizidalen Begehrens in Alter und Krankheit noch die medizinisch-rechtlichen Fragen des praktischen Umgangs mit dem Sterbewunsch in der Begleitung in der letzten Lebensphase geklärt.

Eine Debatte um Suizidales Begehren im Altern und in Krankheit steht im Spannungsfeld von kulturellem Wandel, strafrechtlichen Normen, ethischen Fragen bezüglich der Begründbarkeit und des Sinns der Selbsttötung sowie Problemen im Umgang mit Patienten, die in der medizinischen Praxis, insbesondere der Psychiatrie Suizidale Begehren herausbilden. Um dieses Spannungsfeld hinreichend diskursiv zu erkunden, bedarf es also der Behandlun-gen des  Themas „Suizidales Begehren im Altern und in Krankheit“ ausgehend von verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen. In dieser Ausgabe des EthikJournal sind Beiträge der Rechtswissenschaften, der Psychiatrie, der Philosophie und der Moraltheologie versammelt, um dieses Spannungsfeld zu bearbeiten.

Editorial

 

 


Fachartikel


Mitscherlich-Schönherr 2/2017

Olivia Mitscherlich-Schönherr (München)

Suizid im hohen Alter
Kann Suizid im hohen Alter oder angesichts von schwerer Erkrankung eine Form guten Sterbens darstellen?


Zusammenfassung Im Zentrum meiner Überlegungen steht der Gedanke, dass allein eine – von Anderen unterstützte – Haltung der Selbstliebe einsehen kann, ob es sich bei einer konkreten Gestalt des Suizidbegehrens um das Begehren nach einer Form guten Sterbens handelt. Dabei verstehe ich Selbstliebe als Liebe zum eigenen, seelischen Lieben: zum erotischen Hineingezogen-werden in das individuell aufgegebene Mensch-sein. Zur Ausübung von Selbstliebe gehört die Scheidung des erotischen Hingezogen-werdens in die individuelle Bestimmung von den emotionalen Verstrickungen in das eigene Geworden-sein. Eine Haltung der Selbstliebe befragt ein konkretes Suizidbegehren dahingehend, ob es von Ängsten oder Ressentiments zehrt, die in der Vergangenheit ausgebildet worden sind und die die gegenwärtige Begegnung mit dem individuell aufgegebenen Leben gerade verstellen. Wenn solche Verstrickungen in das eigene Geworden-sein nicht aufgefunden werden können, dann kann Selbstliebe das Begehren, sich selbst zu töten, als erotisches Hineingezogen-werden in das individuell aufgegebene Sterben bejahen. In meinem Aufsatz frage ich, ob die unterschiedlichen Typen des Suizidbegehrens im Alter oder angesichts schwerer Erkrankung in einer Haltung der Selbstliebe bejaht werden können.


Schlüsselwörter Lebensbilanz, Bilanzsuizid, Fluchtsuizid, Verzweiflung, körperleibliche Schmerzzustände, gutes bzw. gelingendes Leben, gutes bzw. gelingendes Sterben, Selbstbestimmung, Vernunft, Lieben, Selbstliebe

Artikel


Godemann 2/2017

Frank Godemann (Berlin)

Der Mensch will leben – eigentlich

Zusammenfassung Suizidalität ist keine mathematische Größe. In der Psychiatrie und Psychotherapie stellt sie eine komplexe therapeutische Abschätzung dar, die wesentlich auf dem vertrauensvollen Kontakt mit dem Patienten / der Patientin beruht. In verschiedensten Situationen ist das Bemühen erfolgreich, eine lebenswerte Perspektive zu vermitteln, die Welt wieder anders einzuschätzen, eventuell auch nur den Suizid zu verschieben, um erst angebotene Alternativen auszuprobieren – zumeist mit Erfolg. Psychotherapeutisches Handeln lebt mit dem Risiko, dass diese Ansätze scheitern und sich Menschen suizidieren. Das Akzeptieren der Grenzen therapeutischer Möglichkeiten kann die Basis für mögliche Veränderungen sein. Psychiatrie kennt Situationen, in denen eine subjektiv erlebte Hoffnungslosigkeit nicht den objektiven Tatsachen entspricht (z.B. Fehleinschätzungen von Unveränderbarkeit in einer schweren Depression). In diesen Situationen gilt es, ohne Ambivalenz Verantwortung zu übernehmen und auch restriktive Maßnahmen einzuleiten. Es ist einer der schönsten Erlebnisse eines Psychiaters, wenn ein Patient / eine Patientin aus der Depression auftaucht, nicht mehr suizidal ist und wieder Freude am Leben entwickelt.

Schlüsselwörter Suizidalität, Psychiatrie, Psychotherapie, Risikoabschätzung, therapeutische Begleitung

Artikel


Duttge und Plank 2/2017

Prof. Dr. Gunnar Duttge und Wiss. Mitarb. Kristine Plank,
(Georg-August-Universität Göttingen)


Strafbewehrung der assistierten Selbsttötung
§ 217 StGB als schlechte Kompromisslösung


Zusammenfassung Unabhängig von der in diesem Zusammenhang umstrittenen Existenz und ggf. Reichweite einer Freiverantwortlichkeit wird dem Suizid eines schwer erkrankten Patienten oft mitfühlendes Verständnis entgegengebracht. Hingegen ist der Ärzteschaft berufsrechtlich eine etwaige Hilfestellung vielerorts verboten und pönalisiert der Gesetzgeber aus Sorge vor einer Normalisierung des Suizides älterer Menschen mit § 217 StGB neuerdings die professionelle Sterbebegleitung. Die viel diskutierte Strafnorm leidet jedoch angesichts unbestimmter Tatbestandsmerkmale und gravierender Strafbarkeitsrisiken an diversen Schwächen, welche anlässlich einer im Ergebnis konträren Verfassungsinterpretation des Bundesverwaltungsgerichtes erneut verdeutlichen, dass die Rechtspolitik bisher keine zufriedenstellenden Lösungsansätze zur Suizidproblematik bieten konnte.

Schlüsselwörter
(Assistierte) Selbsttötung –Selbstbestimmung – Lebensschutz – Geschäftsmäßigkeit – Moralisierung

Artikel


Bobbert 2/2017

Monika Bobbert (Münster)

Suizidwunsch und die Perspektive der Anderen:
Zur Problematik impliziter Vorannahmen und der Hilflosigkeit Nahestehender


Zusammenfassung
Die Auffassung, dass unter bestimmten Bedingungen ein Suizid hingenommen werden sollte, findet in unserer Gesellschaft zunehmende Akzeptanz. Außerdem verstärkt sich die Tendenz, dass es in bestimmten Fällen ein Recht auf Suizidassistenz geben sollte. Kritischen Stimmen, unter anderem aus den christlichen Kirchen, wird vorgehalten, sie respektierten das Selbstbestimmungsrecht zu wenig. Im vorliegenden Beitrag werden implizite Vorannahmen wie „Freitod“ und „Bilanzsuizid“ unter Einbindung philosophischer und psychiatrischer Erkenntnisse untersucht. Es wird aufgezeigt, warum die Delegation der Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit an die Berufsgruppe der Psychiater zu unterschiedlichen Urteilen führt und warum der so genannte „Bilanzsuizid“ inhaltlich unklar ist. Zusatzkriterien wie „Wohlüberlegtheit“, „unerträgliches Leiden“, „Alternativlosigkeit“, „terminale Erkrankung“ oder „Hochbetagtheit“, die bei kranken oder hochbetagten Menschen, weniger aber bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen angeführt werden, werden kritisch beleuchtet. An Hand aktueller Empfehlungen zum Umgang mit Menschen mit einem Suizidwunsch wird herausgearbeitet, warum ein „Mehr-Augenprinzip“ die mit den strittigen Vorannahmen verbundene Unsicherheit und die unzureichende Begründung der Zusatzkriterien nicht kompensieren kann. Angesichts der nicht ausräumbaren Unsicherheiten, der Gefahr der „Übertragung“ und der Hilflosigkeit der Helfer des Nahbereichs ist dem Vorsichtsprinzip Rechnung zu tragen, da die Normen des Lebensschutzes, der Selbstbestimmung und des Nicht-Schadens auf dem Spiel stehen und Nahestehende angesichts eines Suizidwunsches überfordert sind. Es sind daher institutionelle Strukturen auszubauen, die für Menschen mit einem Suizidwunsch und ihre Nahestehende leicht zugänglich sind, um den Laienhelfern professionelle Helfer zur Seite zu stellen.

Schlüsselwörter Suizid – Beihilfe zum Suizid – assistierter Suizid – Bilanzsuizid – Freitod –Vorannahmen – unerträgliches Leiden –  Alternativlosigkeit

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Fachartikel


Kovács 2/2017

László Kovács (Augsburg)

Zur Rolle der Ethik in der Sozialen Arbeit

Zusammenfassung Ethik hat sich zu einem wichtigen Teil der Sozialen Arbeit entwickelt. Dem Selbstverständnis der Profession entsprechend ist ethische Reflexion für die Theorie der Sozialen Arbeit uner-lässlich, um den Gegenstand der Sozialen Arbeit feststellen zu können und für die Praxis, um Entscheidungen in ihrem tiefen Wesen verstehen und begründen zu können. Die Reflexion über die leitenden Werte und Normen der Profession macht eine Kooperation zwischen professioneller Ethik und professioneller Sozialer Arbeit erforderlich.

Schlüsselwörter Soziale Arbeit, Ethik, Theorie, Praxis, Begründung

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  • ISSN 2196-2480