EthikJournal 11. Jg. (2025) Ausgabe 1

"Demokratie als offene Lebensform"

 

Gesamtausgabe


Hier können Sie die gesamte Ausgabe des EthikJournals 2025/1 als PDF herunterladen:

PDF herunterladen

 

Editorial


Jens Wurzbacher und Silke Gülker

Demokratie ist kein Selbstläufer. Was lange Zeit wohl eher als ein etwas abgenutzter Satz aus dem Politik- und Sozialkundeunterricht klang, wird uns aktuell in unmittelbarer und brisanter Weise bewusst. Nachrichten aus den USA machen beinahe täglich deutlich, wie fragil demokratische Ordnungen auch in dem Land sind, das häufig als die Wiege der Demokratie bezeichnet wird. Und auch in Deutschland gehen vermeintliche Selbstverständlichkeiten verloren. Im Aufstieg populistischer, extremistischer und dezidiert antidemokratischer Bewegungen, in polarisierten und zunehmend aggressiven öffentlichen Debatten, in der Bedrohung politisch oder zivilgesellschaftlich engagierter Menschen, zeigt sich ein Erosionsprozess dessen, was als fundamentale Voraussetzung der Demokratie betrachtet werden muss: die Anerkennung der Gleichheit, die Bereitschaft, im Gegenüber sich selbst zu erkennen, die Überzeugung, dass wir uns, trotz unterschiedlicher Interessen, Auffassungen und Bedürfnisse, nicht als Feind:innen sondern allenfalls als Konkurrent:innen gegenübertreten, die in der Lage sind, sich nach friedlicher aber durchaus kontroverser Auseinandersetzung auf einen Kompromiss zu einigen.

Editorial weiterlesen

 

Fachartikel


Wolfgang Thierse

Was bedeutet Solidarität?

Abstract: Der Beitrag analysiert den komplexen Begriff der Solidarität im Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung. Ausgangspunkt ist die Betrachtung historischer, kultureller und emotionaler Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, anhand derer die Transformation von Solidaritätserfahrungen nachgezeichnet wird. Besonderes Augenmerk gilt der Funktion des Sozialstaats als institutionalisierte Form wechselseitiger Unterstützung, sowie den Spannungslinien zwischen freiwilliger und verpflichtender Solidarität. Abschließend problematisiert der Text ein zunehmendes Freiheitsverständnis, das individueller Selbstverwirklichung Vorrang vor kollektiver Verantwortung einräumt. Der Beitrag plädiert für ein erneuertes Verständnis von Freiheit und Solidarität als wechselseitig bedingte Grundlagen demokratischer Gemeinschaft.

Schlüsselwörter: Solidarität – Sozialstaat – Pflicht – Bereitschaft – Gemeinschaft – Verantwortung

Artikel


Hille Haker

Der Kampf um die Demokratie. Katholizismus und Christlicher Nationalismus

Abstract: Die USA erleben derzeit eine Ära der Restauration, die von einem toxischen Zusammenspiel verschiedener Bewegungen geprägt ist. Die konservative Demokratiekritik wird radikalisert zu einem restaurativen Autoritarismus; die charismatisch-christliche Erweckungsbewegung bzw. Die traditionalistische-katholische Theologie wendet sich von den großen Kirchen ab; eine offensive, rechtlich und staatlich beförderte politische Bewegung treibt die Aufhebung der verfassungsmäßig vorgeschriebenen Trennung von Staat und Kriche voran. Die Vision von einer christlich-nationalistischen Gesellschaft mit einem autoritär geführten Staatsapparat bedarf einer kritischen Analyse. Der Beitrag zeigt anhand von Beobachtungen und Beispielen, wie der gesellschaftliche Umbau vonstattengeht und welche Faktoren dabei wichtig sind.

Schlüsselwörter: Tea Party – MAGA Bewegung – christlicher Nationalismus – politischer Messianismus – Gender Ideologie – Religionsfreiheit – Politischer Liberalismus – Postliberaler Rechtskonservativismus

Artikel


Karsten Schubert

Identitätspolitik: Gefahr oder Grundlage der offenen demokratischen Lebensform?

Abstract: Der Artikel argumentiert gegen die weit verbreitete Kritik, Identitätspolitik sei eine Gefahr für die Demokratie und die offene Lebensform als ihre ethische Grundlage. Stattdessen wird Identitätspolitik als notwendiger Motor für die kontinuierliche Demokratisierung verstanden, da sie Wissen über Diskriminierung sichtbar macht und blinde Flecken der Mehrheitsgesellschaft korrigiert. Identitätspolitik verteidigt das Ideal einer offenen, auf Gleichheit und Freiheit gründenden demokratischen Lebensform und leistet einen zentralen Beitrag zur Anerkennung marginalisierter Gruppen. Der Text diskutiert die Ambivalenzen identitätspolitischer Praxis, grenzt demokratisierende von regressiver Identitätspolitik ab und betont deren Unverzichtbarkeit für eine liberale Demokratie und die damit verbundene Ethik der Offenheit.

Schlüsselwörter: IdentitätspolitikLiberale Demokratie – Anerkennung – Demokratisierung – Diskriminierungskritik – Universalismus

 

Artikel


Sarah Häseler

(Wie) ist Demokratie lernbar?

Abstract: Eine lebendige Demokratie erfordert die aktive Mitgestaltung der Bürger:innen. Demokratie kann über demokratische Kompetenzen, Empathie und Prosozialität, dem uneigennützigen Verhalten, gelernt werden. Verschiedene Ansätze zur Demokratieförderung, wie Mentoring, Service-Learning, Gemeinwesenarbeit, Community Organizing und aufsuchende politische Bildung ermöglichen dies. Empirische Daten zeigen, dass politisches Vertrauen und Selbstwirksamkeit entscheidend sind, jedoch nicht automatisch zu einer demokratischen Haltung führen. Diskriminierung und soziale Ungleichheit gefährden die Demokratie; daher sind Schutzmaßnahmen und öffentliche Diskussionen notwendig. Eine starke demokratische Kultur erfordert Zeit, Engagement und infrastrukturelle Gelegenheiten, um Zugehörigkeit zu schaffen.

Schlüsselwörter: Demokratieförderung – Demokratiekompetenzen – Prosozialität – Mentoring – Service-Learning – aufsuchende politische Bildung

Artikel


Silke Gülker

Kritik und Utopie in demokratischen Gesellschaften. Zur aktuellen Bedeutung einer alten Debatte (nicht nur) für die kritische Soziale Arbeit

Abstract: (Inwiefern) braucht (wissenschaftlich fundierte) Kritik ein Bild einer besseren, gewünschten Gesellschaft, um ethisch orientierend zu wirken? Der Beitrag setzt sich mit dieser Frage auseinander und erinnert dafür an Debatten, die lange Zeit im Zentrum der kritischen Theorie standen und die auch von der kritischen Sozialen Arbeit aufgenommen wurden. Mit Bezug zu den Arbeiten von Maeve Cooke wird ein Vorschlag diskutiert, wie Bilder einer besseren Gesellschaft so thematisiert werden können, dass sie nicht autoritär werden und gleichzeitig der Kritik nicht ihre Radikalität nehmen. Für die Wissenschaft Soziale Arbeit sind damit zum einen methodische Impulse verbunden, zum anderen impliziert der Vorschlag eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Topos der Menschenrechtsprofession.

Schlüsselwörter: Ideologiekritik  – kritische Theorie – Transzendenz – Autoritarismus – Bildverbot

Artikel

  • Seite empfehlen


  • ISSN 2196-2480